Rezension | Fernand Hörner: Polyphonie und Audiovision. Theorie und Methode einer interdisziplinären Musikvideoanalyse (2020).

Hörner, Fernand. 2020. Polyphonie und Audiovision: Theorie und Methode einer interdisziplinaren Musikvideoanalyse. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft/Edition Reinhard Fischer. 335 Seiten, broschiert. ISBN 978-3-8487-6517-1. 69 €.

Auf der Verlagsseite und bei trAVis gibt es weiterführende Materialien zum Buch: https://www.nomos-shop.de/titel/polyphonie-und-audiovision-id-86424/, http://www.travis-analysis.org/projects/616/work


Die Forschung zu Musikvideos bzw. audiovisuellen Musikformaten und speziell deren Analyse ist ein noch immer aktuelles Forschungsfeld.1 Fernand Hörners Habilitationsschrift2  Polyphonie und Audiovision. Theorie und Methode einer interdisziplinären Musikvideoanalyse ergänzt dieses Feld um einen wichtigen Beitrag. Er führt den Begriff ‚Polyphonie‘ in die Musikvideoforschung ein3 und entwickelt ihn als zentralen Begriff für sein theoretisch-methodisches Instrumentarium (Kap. 1 und 2). Im zweiten Teil des Buches (Kap. 3 und 4) wendet er diesen „Werkzeugkasten“ (67) in einer exemplarischen Analyse des Musikvideos „Verliebt“ der deutschen Hip Hop-Gruppe4 Antilopen Gang (2015, Regie: Aron Krause) an. Die Kapitel und Unterkapitel strukturiert Hörner anhand klassischer musikwissenschaftlicher Terminologie: Ouvertüre, Exposition, vier Duette, neun Rückführungen und zwei Ensembles.

Soviel sei vorausgeschickt: Das Buch stellt eine fundierte und detailliert ausgearbeitete Theorie und Methode zur Analyse von Musikvideos dar, die die bestehende Literatur zum Thema bereichert. Die Arbeit besticht durch umfangreiche Kenntnis literatur-, musik- und filmwissenschaftlicher Theorien und Analyseansätze, beinhaltet eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Literatur zur Musikvideoanalyse und zeugt von umfassender Kenntnis des Hip Hop – sowohl der Kultur als auch der Forschung. Der Ansatz, den Polyphonie-Begriff im Produkt zu verankern und damit Produktions- und Rezeptionsästhetik zu verbinden, erweist sich insbesondere für die Analyse als ergiebig, mit dem Hörner die Vielschichtigkeit und Komplexität des Musikvideos sowie das Produkt von unterschiedlichen Perspektiven her beleuchten kann. Insofern kann Hörner deutlich machen, dass seine Theorie der Polyphonie und sein „Werkzeugkasten“ ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse von Musikvideos darstellt und die bestehenden Ansätze produktiv erweitert. Dieser verdienstvolle Ansatz kommt allerdings nicht ohne argumentative Problematiken aus – einige davon werde ich im Anschluss an die Darstellung der Theorie und der Analyse aufzeigen.

Grundzüge der Theorie und der Analyse in ‚Polyphonie und Audiovision‘

Unter Polyphonie versteht Hörner den „gleichzeitigen Verlauf unterschiedlicher Elemente (Stimmen im konkreten und/oder übertragenen Sinn) eines (Kunst-)produktes […], welche unterschiedliche semantische und/oder ästhetische Qualitäten und Funktionen besitzen“ (32-33). Insbesondere bringt er den Begriff als „Kontrapunkt“ (11) zum Synästhesie-Begriff in Stellung, der in der Musikvideoforschung häufig verwendet wird. Er sieht diesen aber als unzureichend an, da ‚Synästhesie‘ zu stark auf die Rezeption (zu wenig auf die Produktion) und auf die Ästhetik (zu wenig auf die Semantik) fokussiere; zudem unterstelle ‚Synästhesie‘ eine Synchronizität der drei Ebenen Text, Bild und Musik (1.4). Der Polyphonie-Begriff sei hingegen der „Königsweg“ zur Musikvideoanalyse (67): Von der Ebene des Produkts aus „ermöglicht [der Polyphonie-Begriff] den Zugriff auf die anderen beiden Ebenen der Produktion und Rezeption. Er ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der intermedialen und intertextuellen Verweise und kann ästhetische und semantische Aspekte vereinen.“ (67) Mit der Verortung im Produkt – und nicht etwa bei den Rezipient*innen – grenzt Hörner seinen Begriff auch vom Intertextualitäts-Begriffs Julia Kristevas ab, mit dem sie „die Stimme des Autors […] zum Schweigen“ brachte (92).

Den Polyphonie-Begriff entwirft Hörner in vier Dimensionen: als ambivalentes Spiel mit Bedeutung(szuschreibung)en, als Gattungsvielfalt und Verweisgeflecht, als Polyphonie der Performancepersonen sowie als audiovisuelle Ästhetik (Kap. 2 und S. 179). Mit dem Polyphonie-Begriff der Musikwissenschaft (2.1) teilt Hörner das Verständnis als „mehrstimmiges Zusammenklingen verschiedener Stimmen“ (von Gesangs- wie Instrumentalstimmen) (67–68). Er erweitert ihn aber in der Folge deutlich, u.a. indem er Polyphonie für die populäre Musik auch auf der Ebene der Rhythmik, des Sounds und der Studioproduktion verortet (2.7.). Mit Bezug auf Roland Barthes (2.3 und 2.4) wird Polyphonie als Polysemie und als „Mehrfachcodierung“ (74) beschrieben: als fünf unterschiedliche Aspekte (empirische, semantische, epistemologische, hermeneutische und symbolische), die im Text anklingen und von Rezipient*innen aufgenommen werden können. Von Michael Bachtin (2.5.) übernimmt Hörner die drei Elemente Gattungsvielfalt, polyphones Denken und fremde Stimmen als Bestandteile. Mit der Sprechakttheorie Oswald Ducrots (2.6.) überträgt Hörner den Polyphonie-Begriff auf klingende Stimmen und verschiedene Performancepersonen, aber auch auf verschiede Rezeptionspersonen. Mit dem Begriff der polyphonen Montage von Sergej Eisenstein schließlich (2.10.) konturiert Hörner die Polyphonie als „Analogie für ein komplexes Zusammenspiel von Verläufen“ (150) – auch auf der visuellen Ebene. Eisensteins Begriff der ‚Fuge‘ versteht er zudem als Analogie für die narrative Struktur. Eisensteins Transkriptionsansatz der Vertikalmontage liegt auch dem in der Analyse verwendeten Tool trAVis zugrunde (Kap. 3).

Die vier Dimensionen des Polyphonie-Begriffs kann Hörner im Musikvideo von „Verliebt“ detailliert aufzeigen: Die Polyphonie der Performance-Personen (4.1.) zeichnet er im komplexen Spiel der Band-Mitglieder wie auch der zahlreichen Gast-Musiker*innen mit diversen Schichten und Bezügen ihrer Personae nach. Die polyphone Gattungsvielfalt (4.2) zeigt er eindrücklich in der Verwendung und Brechung von Klischees des Schlagers, Punk und Hip Hop auf narrativer, semantischer und visueller Ebene. Das audiovisuelle Zusammenspiel von Text, Bild und Musik (4.3) kann Hörner gut über die intermodalen Zusammenhänge von Licht- und Farbgestaltung sowie dem Klang und deren Unterstützung der narrativen Dramaturgie (Annäherung, Distanz, Steigerung) herausarbeiten. Auch der zunehmende ‚Kontrapunkt‘ zwischen Liebe (Text) und Gewalt (Bild) als Text-Bild-Polyphonie überzeugt. Schließlich (4.4.) setzt er i.S.d. polyphonen Denkens unterschiedliche Perspektiven in einen Dialog und erarbeitet vier Codes (Karneval, Uniform, Gewalt und Diegese), die sich „des Musikvideos bemächtigen können und dann wieder verblassen“ (258).

Das Fazit (Kap. 5) reflektiert knapp die Übertragbarkeit der Methode auf andere Musikvideos, das methodische Vorgehen sowie die Tauglichkeit des Polyphonie-Begriffs für die Musikvideoanalyse.

Hörners Song-Begriff 

An mehreren zentralen Stellen umgeht Hörner eine fundierte Begriffsdiskussion und -begründung und arbeitet stattdessen mit unhinterfragten Prämissen und Setzungen. Deutlich wird dies zuallererst an seinem Song-Begriff, aus dem sich seine grundlegende und das gesamte Buch durchziehende Forderung nach Berücksichtigung der Semantik ableitet und die des weiteren seine Kritik an den Sound Studies und am Synästhesie-Begriff grundiert. Unter einem ‚Song‘ versteht Hörner unter Rückgriff auf das von ihm mitherausgegebene www.songlexikon.de „eine Tonaufnahme, durch welche indexikalisch auf (mindestens) eine aufführende Person, eine Performance Person, verwiesen wird“ (17-18). Unabhängig von der Frage, ob diese Definition für die Zwecke der Arbeit sinnvoll ist (ich denke: ja), ist problematisch, dass keine Begründung für die Zweckhaftigkeit geliefert und keine alternativen Song-Begriffe5 diskutiert werden. Hörners einzig angeführtes Argument für diesen Begriff ist, dass es sich um eine „allgemeine, aber gängige Definition“ (18) handle. Aus dieser unhinterfragten Setzung leitet er den Imperativ ab, dass die Beschreibung von Popmusik als Gesamtheit von solchen Songs (19) sowohl „die Bedeutung auf semantischer Ebene sowie die Beschreibung auf ästhetischer und/oder aufnahmetechnischer Ebene“ enthalten „muss“ (27).

Hörners Kritik an den Sound Studies

Hörner kritisiert das Forschungsfeld der Sound Studies in zweierlei Hinsicht als unzureichend. Dabei baut er argumentativ auf den Referenzcharakter von Songs auf, denn auch ‚Sound‘ als „im Rahmen eines Songkontextes und Produktionsprozesses elektronisch manipulierter Klang“ (26) beinhaltet einen indexikalischen Verweis auf Performancepersonen. Erstens würden in Arbeiten der Sound Studies indexikalische und symbolische Bedeutungen ausgeschlossen (25-26) und v.a. „referenzlose Klangobjekte[]“ betrachtet (272). Sein historisierender Beleg durch Arbeiten von Pierre Schaeffer und Michel Chion ist äußerst selektiv, zumal mit Jonathan Sterne und Holger Schulze zwei aktuelle und weithin rezipierte Autoren explizit die kulturelle Bedingtheit und Überformung von Klängen sowie deren Bedeutungen in ihre Definition von ‚Sound Studies‘ integrieren (Schulze 2008; Sterne 2012).6

Der zweite Kritikpunkt betrifft einen angeblichen „deaf spot“ (24) der Sound Studies in Bezug auf Popmusik, sogar eine angebliche „Missachtung der Popmusik“ (25) aufgrund eines Fokus auf „Avantgarde Musik, Noise oder Sound in popmusikfremden Kontexten“ (24). Das ist schlichtweg unzutreffend: Übernommen von Marta Quiñones (in Papenburg/Schulze 2016) ignoriert er gleichzeitig mehrere andere Beiträge des Sammelbandes7, die den Zusammenhang von Sound und populärer Musik, teilweise auch mit Popmusik i.S. Hörners, behandeln. Viele weitere Texte, die das ebenfalls tun, verschweigt er komplett8 und belegt den „deaf spot“ stattdessen „exemplarisch“ (24) mit Herzogenraths Buch Sonic Thinking (2017). Die einseitige und unzureichende Abbildung des Diskurses dient Hörner dazu, seinen eigenen Ansatz explizit als überlegen herauszustellen (272), was sich aber leicht als rhetorischer Kniff und als ‚Strohmann-Argument‘ entlarven lässt – für seine eigene Theoriearbeit und Analyse hat die Kritik an den Sound Studies keinerlei Relevanz.

Zum Verhältnis von Semantik und Synästhesie

Zentral für die Etablierung des Polyphonie-Begriffs für die Musikvideoanalyse ist für Hörner die Auseinandersetzung mit dem Synästhesie-Begriff, den er aber wegen der fehlenden Semantik ablehnt (1.4.). Eine solche Perspektive auf das Musikvideo durch den Polyphonie-Begriff bringt zwar schlüssige Ergebnisse zum Vorschein, wie Hörner in seiner Analyse zeigen kann. Aber auch hier sind argumentative Schieflagen, v.a. in Bezug auf seine Kritik an der Uneinheitlichkeit des Begriffsverständnisses und auf die von ihm beklagte implizite Gleichsetzung von Synästhesie mit Synchronizität, auszumachen.

In der umfangreichen Begriffsdiskussion (1.4.1. bis 1.4.3.) konstatiert Hörner „zentrale Uneinigkeit“ und „Widersprüche“ (42) im Begriffsverständnis von Synästhesie. Heterogene Begriffsverständnisse und dadurch notwendige Begriffsdiskussionen und -abgrenzungen sind aber das tägliche Geschäft von interdisziplinären Forschungsarbeiten, als die Hörner seine Arbeit explizit ausweist (11). Einen Begriff aufgrund seiner heterogenen Bedeutung in diversen Disziplinen (hier: Neurobiologie, Psychologie und Kunst-/Medienwissenschaft) abzulehnen ist ein fadenscheiniges Argument – vielmehr spielt Hörner die jeweiligen unterschiedlichen Auffassungen von Synästhesie gegeneinander aus, um den Polyphonie-Begriff zu legitimieren.

Zum zweiten verkürzt Hörner in seiner etymologischen Diskussion von ‚Synästhesie‘ und ‚Polyphonie‘ die Begriffe ohne weitere Diskussion und jeweils in seinem Sinne. So verkürzt er das Präfix ‚syn-‘ von seiner Bedeutung „zusammen“ und „zugleich“ stillschweigend auf „zugleich wahrnehmen“ (62), womit er die zu starke Fokussierung auf die Gleichzeitigkeit von Bild und Ton in der Literatur zur Musikvideoanalyse kritisiert (32). Das ‚zusammen wahrnehmen‘, wie es phänomenologische Ansätze betonen,9 fällt unter den Tisch. Die Schlagseiten des Polyphonie-Begriffs hingegen verschweigt Hörner weitestgehend. Die notwendige Übertragung des Suffixes „-phonie“ aus dem Auditiven auf alle Sinne argumentiert Hörner relativ lapidar mit dem Verweis, dass das Hören für zeitliche Abläufe und daher für das Zusammenspiel von Bild, Text und Ton geeignet sei (28, 73)10  – ironischerweise würde der Wortstamm ‚-ästhesie‘ bereits den geforderten Einbezug aller Sinne implizieren. Analog zu ‚syn-‘ verengt Hörner ‚-phon‘ stillschweigend auf die menschliche Stimme und auf ihre „Doppelfunktion von Ästhetik und Semantik“ (52) – dass ‚-phon‘ auch schlichtweg alles Klingende beinhaltet, verschweigt er wiederum.11

Hörners Verständnis von Blackness, Signifyin(g) und Hip Hop

Hörner untersucht Hip Hop als schwarze Musik12 und setzt sich kritisch mit der “Rolle der Afro-Amerikanizität” (120), mit Konzepten der Polyphonie, Polyrhythmik und Polymetrie sowie mit der Hip Hop-Forschung und den African-American-Studies auseinander (2.7. und 2.8.). Auch nach intensiver Lektüre und Diskussion bleibt mir allerdings unklar, wozu dieser Argumentationsstrang dienlich ist.13

Der Forschung zu Hip Hop und zur globalen Popmusik attestiert Hörner eine „Essentialisierung von Afroamerikanizität“ (123). Gates (1988) vollführe bei seiner Beschreibung der kulturellen Technik des Signifyin(g)14 „das Kunststück, einerseits die Parallelen zu Bachtins Konzept der Polyphonie/Dialogizität zu betonen und andererseits an der Essentialisierung als einem ‚schwarzen‘ Konzept festzuhalten“ (131). Die plausiblere Lesart Gates‘ scheint mir jedoch, dass dieser sich des Begriffs bei Bachtin bediente, um eine Spezifik der afrikanischen/afro-diasporischen, primär oral geprägten Kultur beschreibbar zu machen. Will Hörner hier (131-134) die Legitimität der Entlehnung eines Begriffs abstreiten, um damit eine spezifische Kulturtechnik zu beschreiben? Oder verwechselt er den Begriff ‚Signifyin(g)‘ mit dem damit zu bezeichnenden Gegenstand, nämlich der oralen Kulturtechnik des indirekten und metaphorischen Sprechens (Rappe 2010b, 152)? Oder will er nahelegen, dass das Signifyin(g) lediglich eine aus dem sokratischen Dialog (einem Vorläufer des Bachtin’schen polyphonen Romans) abgeleitete Kulturtechnik sei?

Hörner versteht des Weiteren blackness „nicht als ethnisches, sondern als ein ästhetisches und von Herkunft und Abstammung unabhängiges Phänomen“ (123) und als Diskurs im Sinne Foucaults (125). Eine grundlegende Reflexion historischer und kultureller Hegemonie- und Machtkonstellationen erschiene hier jedoch dringend geboten, zumal der Begriff von marginalisierten und diskriminierten Menschen(gruppen) als Selbstzuschreibung, Empowerment und ‚strategischer Essentialismus‘ (Gayatri C. Spivak) verwendet wird. Weiterhin versucht Hörner scheinbar die historische Gewachsenheit der Polyphonie im Hip Hop aus dem afrikanischen/afro-diasporischen Signifyin(g) zunächst wegzuargumentieren, um seinen Polyphonie-Begriff im Anschluss als ‚Korrektur’ einführen zu können.

Stil, Perspektive, Reflexion und Transparenz

Der autoritäre und dominante Sprachstil, in dem die Arbeit gehalten ist, scheint mir weder zeitgemäß noch ansprechend. So schreckt Hörner bspw. nicht davor zurück, seinen eigenen Ansatz als normativ besser auszuweisen, als „Königsweg“ (67). Des Weiteren fehlen im gesamten Buch eine Rahmung der Arbeit als Perspektive auf einen Gegenstand sowie Reflexionen über die Reichweite und die Grenzen der Methode – viel mehr weist er andere Ansätze recht harsch als unzulänglich aus und formuliert Imperative an die wissenschaftliche Forschung. Das Schreiben im Passiv und im generischen Maskulin sowie die fehlende Selbstverortung, wie sie bspw. von den Cultural Studies eingefordert wird, verstärken den Eindruck dieses Autoritätsanspruchs. Vor dem Hintergrund, dass Polyphonie die ‚Vielfalt der Stimmen‘ betonen solle, wirkt das Verschleiern der Sprechstimme Hörners und das Ausblenden weiblicher und diverser Stimmen recht befremdlich. Schließlich fehlt in Bezug auf die Transkriptionssoftware trAVis sowohl eine methodische Diskussion und Begründung der Entscheidung für dieses Tool als auch Transparenz über seine Rolle in der Entwicklung der Software.15

Transkription der Bild-, Text- und Tonebene von “Verliebt” auf der Website von trAVis (eigener Screenshot)

Resümee

Insgesamt lese ich die Arbeit nicht als Ausdruck eines ‚polyphonen Denkens‘, bei dem „jedes Phänomen auch gleichzeitig seinem Gegenteil in ambivalenter Spannung gegenüber steh[t], ohne sich zu einer Einheit oder […] zu einer Synthese vereinen zu lassen“ (88) – im Gegenteil: die Tendenz zum Voranstellen der eigenen ‚Stimme‘ durchzieht das ganze Buch. Zudem vermisse ich ein Bewusstsein dafür, dass es sich bei diesem Buch um eine von vielen ‚Stimmen‘ im ‚polyphonen Konzert‘ namens Musikvideoforschung handelt. Das Buch ist – so mein Eindruck – vom unbedingten Bestreben getragen, ‚Polyphonie‘ als neues Paradigma in der Musikvideoforschung zu etablieren.

Nichtsdestotrotz gelingt es Hörner sowohl in der theoretischen Abhandlung des Polyphonie-Begriffs als auch in der Analyse des Musikvideos, das produktive Potential des Begriffs für audiovisuelle Medieninhalte hervorzuheben und insbesondere auch Limitierungen des Synästhesie-Begriffs aufzubrechen. Die Arbeit scheint mir daher dennoch eine wertvolle und produktive ‚Stimme‘ in der Forschung zu Musikvideos und – etwas weiter über den eigentlichen Analyse-Gegenstand hinausgedacht – zu einer Theorie medialer Audiovisualität zu sein.


Bibliographie und Mediographie

Antilopen Gang: „Verliebt“, 2015. Regie: Aaron Krause. https://youtu.be/JNLlR7ZvEC8 (Abruf: 12. April 2021).

Böhme, Gernot. 2001. Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink.

Bonz, Jochen. 2008. Subjekte des Tracks: Ethnografie einer postmodernen/anderen Subkultur. Kaleidogramme 39. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Brockhaus, Immanuel. 2017. Kultsounds: die prägendsten Klänge der Popmusik 1960-2014. Musik und Klangkultur 23. Bielefeld: transcript.

Brooks, Kinitra Dechaun, und Kameelah L. Martin, Hrsg. 2019. The Lemonade reader: Beyoncé, black feminism and spirituality. London; New York: Routledge.

Brøvig-Hanssen, Ragnhild, und Anne Danielsen. 2016. Digital Signatures: The Impact of Digitization on Popular Music Sound. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press.

Burns, Lori, und Stan Hawkins, Hrsg. 2019. The Bloomsbury Handbook of Popular Music Video Analysis. New York, NY: Bloomsbury Academic.

Eshun, Kodwo. 1998. More Brilliant Than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. London: Quartet Books.

Gates, Henry Louis. 1988. The Signifying Monkey: A Theory of Afro-American Literary Criticism. New York: Oxford University Press.

Goodman, Steve. 2010. Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear. Technologies of lived abstraction. Cambridge, Mass: MIT Press.

Herzogenrath, Bernd. 2017. Sonic Thinking: A Media Philosophical Approach. New York: Bloomsbury Academic.

Ismaiel-Wendt, Johannes. 2011. tracks’n’treks: populäre Musik und postkoloniale Analyse. 1. Aufl. Münster, Westf: Unrast.

Kane, Brian. 2015. „Sound Studies Without Auditory Culture: A Critique of the Ontological Turn“. Sound Studies 1 (1): 2–21. https://doi.org/10.1080/20551940.2015.1079063.

Moore, Allan F. 2012. Song means: analysing and interpreting recorded popular song. Ashgate popular and folk music series. Farnham, Surrey ; Burlington, VT: Ashgate.

Olutola, Sarah. 2019. „I Ain’t Sorry: Beyoncé, Serena, and Hegemonic Hierarchies in Lemonade“. Popular Music and Society 42 (1): 99–117. https://doi.org/10.1080/03007766.2019.1555897.

Papenburg, Jens Gerrit. 2012. „Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik“. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.), Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.

Papenburg, Jens Gerrit, und Holger Schulze, Hrsg. 2016. Sound as Popular Culture: A Research Companion. Cambridge, Massachussets: The MIT Press.

Pinch, Trevor. 2004. Analog Days: The Invention and Impact of the Moog Synthesizer. Revised ed. Edition. Cambridge, Massachusetts London, England: Harvard University Press.

Quiñones, Marta García. 2016. „Sound Studies versus (Popular) Music Studies“. In Sound as Popular Culture: A Research Companion, herausgegeben von Jens Gerrit Papenburg und Holger Schulze, 67–75. Cambridge, Massachussets: The MIT Press.

Rappe, Michael. 2010a. Under construction: Kontextbezogene Analyse afroamerikanischer Popmusik (Teilband 1). 1. Auflage. Musicolonia, 6.1. Köln: Verlag Dohr.

———. 2010b. Under construction: Kontextbezogene Analyse afroamerikanischer Popmusik (Teilband 2). 1. Auflage. Musicolonia, 6.2. Köln: Verlag Dohr.

Rietveld, Hillegonda, und Marco Benoît Carbone. 2017. „Introduction: Towards a Polyphonic Approach to Games and Music Studies“. G|A|M|E Games as Art, Media, Entertainment 1 (6). https://www.gamejournal.it/?p=3219.

Schulze, Holger, Hrsg. 2008. Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate; Eine Einführung. Bd. 1. Sound studies. Bielefeld: transcript.

Sterne, Jonathan. 2012. „Sonic Imaginations“. In The Sound Studies Reader, herausgegeben von Jonathan Sterne, 1–17. New York: Routledge.

Vernallis, Carol. 2017. „Beyoncé’s Overwhelming Opus; or, the Past and Future of Music Video“. Film Criticism 41 (1). https://doi.org/10.3998/fc.13761232.0041.105.

Vernallis, Carol, Holly Rodgers, und Lisa Perrott, Hrsg. 2020. Transmedia directors: artistry, industry and new audiovisual aesthetics. New approaches to sound, music, and media. New York: Bloomsbury Academic.

Volmar, Axel, und Jens Schröter, Hrsg. 2013. Auditive Medienkulturen: Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung. Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839416860.

Waldenfels, Bernhard. 2010. Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung. 1. Auflage. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1973. Berlin: Suhrkamp.


1 Siehe dazu bspw. rezente Veröffentlichungen von Carol Vernallis (2017), Kinitra D. Brooks und Kameelah L. Martin (2019), Sarah Olutola (2019), Lori Burns und Stan Hawkins (2019) oder Carol Vernallis, Holly Rodgers und Lisa Perrot (2020).

2 Die Habilitation erfolgte im Fach Medienwissenschaft an der Universität Basel.

3 Der Begriff wurde jüngst von Hillegonda C. Rietveld und Marco B. Carbone auch in die Ludomusicology (der Forschung zu Computerspielmusik) eingebracht (Rietveld und Carbone 2017), wie Hörner auch anmerkt (28).

4 In Bezug auf die Schreibweise dieser Kultur bzw. dieses Genres weiche ich von Hörners Schreibweise (‚HipHop‘) ab und orientiere mich an der Schreibweise von Rappe (2010a).

5 So haben bspw. Jochen Bonz oder Alan Moore deutlich davon abweichende Begriffe von ‚Song‘ (Bonz 2008, 127; Moore 2012, 15). Auf beide Werke greift Hörner an anderer Stelle seines Buches zurück.

6 Zudem wird von anderen Autoren eine Verengung auf referenzlose Klänge durch Ergänzungen wie ‚auditive Medienkulturen‘ (Volmar und Schröter 2013) oder ‚auditory culture‘ (Kane 2015)aufzufangen versucht. Auch die AG versucht mit dem Namen Auditive Kultur und Sound Studies einer solchen Einengung vorzubeugen.

7 Hier sind die Beiträge von Mark J. Butler, Thomas Hecken, Bodo Mrozek, Jens Gerrit Papenburg (beide Beiträge) und Peter Wicke zu nennen.

8 Hier sind bspw. zu nennen: Kodwo Eshun (1998), Trevor Pinch (2004), Steve Goodman (2010), Johannes Ismaiel-Wendt (2011), Jens Gerrit Papenburg (2012), Ragnhild Brøvig-Hanssen und Anne Danielsen (2016), darüber hinaus die zahlreichen Texte  von Rolf Großmanns zur Remix- und DJ-Kultur. Sogar das von Hörner öfters zitierte Kultsounds (Brockhaus 2017) sieht er nicht als Arbeit aus dem Feld der Sound Studies an.

9 So versteht bspw. Gernot Böhme Synästhesien als „integrative Phänomene“ und Wahrnehmungen als „atmosphärische[n] Totaleindruck“ (Böhme 2001, 87); Bernhard Waldenfels spricht von Synästhesie als einer „leiblichen Gesamterfahrung, die sich durch Differenzierung in spezifische Sinnessphären zerteilt“ (Waldenfels 2010, 372).

10 Solche generalisierenden, essenzialisierenden und dichotomen Annahmen über das Hören und Sehen hat Jonathan Sterne als ‚audiovisual litany‘ kritisiert (Sterne 2003: 14-19) – eine im Sound Studies-Diskurs weitläufig bekannte Kritik. Sinnesphysiologisch ist die von Hörner vorgenommene Übertragung der auditiven Polyphonie auf das Zusammenspiel von Text, Bild und Musik undifferenziert, da auch das Hören mittels Stereohören und Filtereffekten an der Raumwahrnehmung beteiligt ist.

11 So ist bspw. das Phonem der Linguistik die kleinste lautliche (nicht aber kleinste semantische) Einheit; die psychoakustische Einheit Phon bezeichnet die Lautheit von jedweden akustischen Ereignissen, nicht nur von Stimmen; und auch das Grammophon zeichnet nicht nur Stimmen und schon gar nicht Bedeutungen auf.

12 Hörner setzt in seiner Arbeit die Adjektive ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ oder den Begriff ‚blackness‘ in doppelte Anführungszeichen und folgt damit der Forderung rassismuskritischer Arbeiten, diese Adjektive als kulturelle Konstruktionen und Zuschreibungen auszuweisen. Um eine Verwechslung mit wörtlichen Zitaten aus dem Buch zu vermeiden, setze ich diese Begriffe kursiv und verweise damit analog auf die kulturelle Konstruktion von Hautfarbe.

13 Mein Dank gilt an dieser Stelle allen Teilnehmer*innen des Forschungsforums populäre Musik unter der Leitung von Florian Heesch und Michael Rappe. Mit den hier aufgezeigten Unklarheiten und offenen Fragen möchte ich auch andere Forscher*innen einladen, sich mit diesen Kapiteln des Buches auseinanderzusetzen und meine Sichtweise zu erhellen, zu erweitern und gegebenenfalls zu korrigieren.

14 Henry L. Gates Jr. (1988) beschreibt mit Signifyin(g) die kommunikativen Strategien des indirekten und metaphorischen Sprechens in der afrikanischen/afro-diasporischen Kultur, die auch im Rap besonders relevant sind. Gates betont mittels unterschiedlicher Schreibweisen den Unterschied zwischen Signifyin(g) als rhetorische Strategie innerhalb des black English – als „black term“ – und dem Signifying als Begriff für das Bezeichnen (Signifizieren) in der Sprache der weißen US-Amerikaner – als „white term“. Das eingeklammerte ‘g’ markiert diese Differenz und betont zugleich den primär oralen Charakter des Signifyin(g), da das „g“ beim Sprechen häufig verschluckt wird (Gates 1988: 46; alternativ auch Signifyin‘ mit einem Apostroph, siehe Rappe 2010: 23). Hörner hingegen nutzt ausschließlich den „white term“, also die Schreibweise Signifying, und ignoriert damit diese Differenz.

15 Die Software wurde am selben Institut entwickelt an dem Hörner habilitiert wurde (Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, Prof. Dr. Klaus Neumann-Braun), er weist zahlreiche Veröffentlichungen mit einem der Mitwirkenden an der Software-Entwicklung auf (Christopher Jost) und arbeitet häufig mit diesem und dem Freiburger Zentrum für Populäre Kultur und Musik zusammen, u.a. am www.songlexikon.de.