Rezension | Jennifer Iverson: Electronic Inspirations. Technologies of the Cold War Musical Avant-Garde (2019)

Alan van Keeken (Halle)

Jennifer Iverson. Electronic Inspirations. Technologies of the Cold War Musical Avant-Garde. New York: Oxford University Press 2019. 312 Seiten, 17,99 €.


Playlist zum Buch. Die Reihenfolge der Titel orientiert sich grob am ersten Erscheinen im Buch bzw. der eingehenden Analyse durch Iverson. Leider konnten einige der Titel nicht gefunden werden.

Das Musikstudio hat die Vorstellung davon, was Musik ist oder besser gesagt, was sie sein kann, nachhaltig verändert. Grundlage waren die in ihm bereitgestellten technischen Möglichkeiten der Alteration, Kuration und Synthese von Klängen: Aus Schaltungen ertönten nie gehörte Sounds, durch Mikrofonierung und Abmischung konnte die Position der Schallquellen in ungekanntem Grad fixiert werden und die Aufnahmen identifizierbarer Klänge wurden durch Zeit- und Frequenzmodulation zu akusmatischen Abstrakta. Das Studio hat eine eigene musikalische Realität geschaffen, die sich auch in der Musikkultur- und praxis niedergeschlagen hat. Die Möglichkeiten der Kontrolle von Timbre, Rhythmik und Instrumentation in der „toolscape“ (Tallis 2003: 152) Studio haben sich in die Kompositionen und Musikkonzepte der Musiker*innen eingeschrieben. H. Stith Bennett nannte diese neue Art musikalischer Vorstellung durch die Möglichkeiten des Studios „Recording Conciousness“ (Bennett 2017: 131).

Während Bennett sich bei dieser Denkfigur eher auf die „Studioästhetik“ des Rock bezog, gehen bei Jennifer Iverson die Electronic Inspirations dezidiert von den elektronischen Experimentalstudios aus, in denen die westliche Avantgarde der Nachkriegszeit von John Cage über Karlheinz Stockhausen und Bruno Madera bis Cathy Berberian wirkten. Diese entstanden in vielen europäischen Ländern und den USA und boten Komponist*innen und Interpret*innen neue klangliche und kompositorische Möglichkeiten. Doch – und das ist eine der Hauptthesen der Autorin – selbst als die Komponist*innen sich wieder traditioneller akustischer Instrumentation zuwandten, blieben die in den elektronischen Studios gewonnenen Erkenntnisse und Konzepte für sie zentral. Der Umgang mit Synthesizern, die Arbeit an Schneidetischen und die Beschäftigung mit den elektroakustischen Grundlagen lenkte den Fokus auf Aspekte wie Timbre, Mikrotiming, Psychoakustik wie auch die Grenzen menschlicher Hörwahrnehmung (124).

Doch das greift vor: Iversons Monografie ordnet die durch viele Analysen (68; 80) und Interpretationen gestützten Befunde historisch und kulturwissenschaftlich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und den sie bestimmenden kulturellen und musikalischen Diskursen ein. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf Westdeutschland und das Studio für elektronische Musik des WDR in Köln. Einige in der ausführlichen Einleitung angerissene Themen finden dabei im Verlauf der Abhandlung mehr, manche weniger Aufmerksamkeit. Obgleich Iverson z.B. die Rolle der Förderung elektronischer Musik als Propagandamittel gegen die restriktiven kulturpolitischen Leitlinien des sozialistischen Auslandes anspricht – Stichwort: sozialistischer Realismus – (8), spielen sie im weiteren Verlauf ihrer Abhandlung keine große Rolle mehr.

Zwei Aspekte werden hingegen wiederkehrend behandelt: Erstens die Rolle elektronischer Musik in „Heilungsprozessen“ nach der Zäsur des Hitlerfaschismus und die erhoffte „Remaskulinisierung“ (18) des deutschen Geisteslebens im Bereich der Musik. Diese Ziele fanden ihren Ausdruck auch in den heteronormativen Hierarchien und Dominanzen im Studio (16), in denen Homosexuelle und Frauen kaum eine Rolle zukam. Mit dieser Avantgarde wollte sich Westdeutschland international wieder einen Namen machen. Mit dem Studio wollte man dazu ein „Timbral Utopia“ (26f.) erschaffen – einen Ort, an dem jede Klangvorstellung avancierter Musik realisiert werden könne. Iverson betrachtet dieses Ansinnen der Rückerlangung kultureller Hegemonie retrospektiv als gelungen (107). Zweitens die damit eng verbundene „Stunde Null“ als ersehnten Anfangspunkt einer intellektuellen Wiedergeburt – die eben keine war. Medientechnisch wie auch im Bereich des Wissens und des Personals (besonders prominent konzentriert in der Person Werner Meyer-Epplers) (176) basierte ein großer Teil der Arbeit im Studio auf Erkenntnissen und Technologien aus dem Zweiten Weltkrieg (126). Gleichzeitig relativiert die Autorin Friedrich Kittlers emphatisches Diktum des „Missbrauchs von Heeresgerät“ (1988; Kittler 1986: 96): Was faktisch nicht zu bestreiten ist – die Kriegsgeborenheit der eingesetzten Technologie – habe für die künstlerische Praxis und die Selbstreflexion der beteiligten Akteur*innen kaum eine Rolle gespielt, etwaige Verbindungen verweist sie ins Reich des Spekulativen (192).

Obgleich Iverson nicht umhinkommt, bestimmte Personen ausführlicher zu behandeln, ist ihre Untersuchung der Versuch, weg von einer Erzählung der „großen Namen“ zu kommen und das Studio nicht als hermetischen Raum, sondern als „heterogenous laboratory“ darzustellen (13). Folgerichtig hebt sie die Rolle (transnationaler) Netzwerke hervor und verweist auf den Anteil der „invisible hands“ (Shapin 1989; Romão 2020), der Studiomitarbeiter*innen, Toningenieure*innen und Techniker*innen, an ästhetischen Prozessen (31-35). Iverson betont dabei, dass die „Credits“ von den Verantwortlichen häufig unsichtbar gemacht wurden, die „Technik“ schon mal in den Fußnoten verschwand (47). Die Analyse von Bekanntschaften, Animositäten, Kollaborationen (121) und menschgewordenen Knotenpunkten als Grundlage der Arbeit und des (Nach)Denkens mit und über elektronische Musik ziehen sich durch das ganze Buch, werden in Grafiken dargestellt (so am Beispiel von David Tudor, 70f.).

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches sind (Elektro)Akustik, Informationstheorie, Stochastik und Phonetik und welche Rolle sie für die Neue Musik dieser Zeit gespielt haben (21; 105). Diese Theoriebestände waren nicht nur Grundlage des Verständnisses des „Studios als Instrument“, oft suchten die Komponist*innen in ihnen auch Inspiration und Lösungen für die Probleme, die sich aus dem seriellen Paradigma dieser Zeit ergaben (115f.). Hier zeigt sich eine Stärke, die Iverson immer wieder ausspielt: Sie liefert durch Analysen konkreter Stücke und Arbeitsweisen nicht nur den Nachweis der künstlerischen Verwendung damals teils noch sehr frischer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sie rekonstruiert auch zeitlich die Art und Weise, wie das Wissen zu den Komponist*innen gelangte. Als Netzwerkknoten wie auch „Transmissionsriemen“ dient – wieder – Meyer-Eppler, rezipierte er doch neuste phonetische Forschung aus den USA (81; 176) und popularisierte Claude Shannons Informationstheorie in Westdeutschland. Nachdem er sich nach seiner Entnazifizierung ab Ende der 1940er Jahre in Richtung akustischer Forschung a lá Carl Stumpf und Hermann von Helmholtz positioniert hatte (169), machte er Stockhausen, Henri Pousseur und Co. durch Seminare (ca. 1953–1955) mit dem Wissen bekannt (85ff.; 172), das sich im Folgenden in vielen Kompositionen rund um das Studio in Köln niederschlug. Allein Stockhausen traf sich mit ihm im Jahr 1955 wöchentlich (s. Übersicht 116).

Besonders anschaulich wird diese Beeinflussung von Iverson am Wandel von den „pointillistic“ Stücken hin zu der Anwendung größerer Formen und Gesten (116f.) dargestellt. Die zu Beginn der 1950er Jahre entstandenen Stücke begannen sich immer mehr zu ähneln, versuchten sie doch – entweder durch Zufall oder serielle Reihen – jedem Klangereignis individuelle Längen, Tonhöhen und andere Charakteristiken zuzuweisen. Einen Ausweg boten psychoakustische Erkenntnisse über die Grenzen menschlicher Hörerfahrung, die z.B. auch in den Gesang der Jünglinge oder das detailliert analysierte Stück Essay von Gottfried Michael Koening einflossen (121ff.). Mit seinem Konzept der Bewegungsfarbe spielt er dort mit dem Phänomen, dass ab einer bestimmten Geschwindigkeit pulsierende Rhythmen als Tonhöhen wahrgenommen werden. Obgleich das Stück streng seriell konzipiert wurde, führen die in ihm vorkommenden Stauchungen und Dehnungen die Hörer*innen genau an diese Grenzen. Iverson bietet hier den Einstieg in die Analyse Neuer Musik, welche die Instrumente als materielle wie kompositorische Grundlage ernst nimmt, ohne in Positivismus zu verfallen: Koenings Stück fügt sich in seinem Aufbau in die (kulturkritischen) Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Maschine dieser Zeit ein (124). Wie eingangs erwähnt, fanden sich diese Überlegungen – teils an den Grenzen des spieltechnisch Möglichen kratzend – auch in „akustischen“ Werken, z. B. György Ligetis, wieder (ebd.).

Die Autorin rekonstruiert auch die Interaktion mit dem mannigfaltigen Instrumentarium der elektrischen Studios. Durch intensive Nutzung eigneten sich Mauricio Kagel (171), Ligeti und andere ein sehr profundes Wissen über die technischen Möglichkeiten und Begrenzungen von Oszillatoren, Tonbandmaschinen oder das von Harald Bode konstruierte Melochord (32) an (91). Etwas überraschend rekonstruiert Iverson zudem die wichtige Rolle des präparierten Klaviers für das Denken über elektronische Musik (55–57). Zentral sei hier die Kombination aus traditioneller Herkunft des Instruments und der ihm innenwohnenden Potentiale für die Produktion neuer Klänge gewesen; eine Kombination, in der man auch die elektronische Klangerzeugung verortete (56). Die technische Expertise und die Art und Weise, wie die Stücke entstanden, wurde nach außen oft „geheim“ gehalten. Die Beziehung zum Equipment war allerdings keine rein positive: Man war sich der technischen Unzulänglichkeiten und Begrenzungen bewusst (97f.) und diskutierte auch die Auswirkung der notwendigen Fixierung der Arbeiten auf Tonband auf die Musikkonzepte. Aleatorik und andere auf Zufall basierende Stücke seien dadurch performativ eingeschränkt (145ff.; 164 f.).

In diesen und anderen Zusammenhängen scheint zuletzt auch immer wieder die Rolle der Neuen Musik im öffentlichen Diskurs auf. Auf Festivals und vor allem in den zentralen Publikationsorganen wie der Reihe (94) oder den Gravesaner Blättern (130) von Hermann Scherchen wurden die neuen Konzepte im Zusammenhang mit dem elektronischen Studio diskutiert. Zuletzt betont die Autorin unter Verweis auf die „studio networks“, dass viele der auch von ihr wiedergegebenen Kontroversen und Skandale weniger Animositäten (z.B. zwischen Cage und Stockhausen) entsprängen als vielmehr einem brennenden Engagement für die avantgardistische Klangerzeugung im elektronischen Studio. Einem Ort, der sich – so stellt Jennifer Iverson mit Electronic Inspirations überzeugend dar – tief in die musikalischen Vorstellungswelten und Kompositionstechniken der Nachkriegsavantgarde einschrieb und sich für westdeutsche Musiker*innen als zentrale Ressource erwies, wieder international auf der Landkarte „ernster Musik“ zu erscheinen.

Literatur

Bennett, H. Stith (2017). On Becoming a Rock Musician. New York: Columbia University Press.

Kittler, Friedrich (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose.

Kittler, Friedrich (1988). Rockmusik – Ein Missbrauch von Heeresgerät. In: Appareils et machines a répresentation, Hg. C. Grivel, Mannheim, S. 87-102 (mana, Mannheim-Analytiques / Mannheimer Analytika, 8).

Romão, João (2020). Volker Müller & Co.: Electronic Music and Sound Engineering at the WDR. In: Contemporary Music Review 39 (6), S. 648–662.

Shapin, Steve (1989). The Invisible Technician. In: American Scientist 77 (7), S 554–653.

Tallis, Raymond (2003). The Hand. A Philosophical Enquiry Into Human Being. Edinburgh: Edinburgh University Press.