Musikalische Streichhölzer, Medientechnologien und die Geschichte musikalischen Hörens. Ein Gespräch mit Anne Holzmüller

Lorenz Gilli im Gespräch mit Anne Holzmüller, Qualifikationsprofessorin für „Akustische Kultur und Musikvermittlung“ an der Philipps-Universität Marburg

Anne Holzmüller ist seit 2020 Qualifikationsprofessorin für Akustische Kulturen und Musikvermittlung an der Philipps-Universität Marburg. Sie hat Schulmusik mit den Schwerpunkten Klavier und Musiktheorie sowie Germanistik studiert und zum Thema „Lyrik als Klangkunst“ promoviert. Sie hatte Fellowships inne am Music Department der Universität Harvard in den USA und am Freiburg Institute for Advanced Studies. Zuletzt hat sie in Freiburg am Sonderforschungsbereich 1015 das Teilprojekt „Muße und musikalische Immersionserlebnisse” geleitet. Für eine neue Episode des Podcasts “Sounds of Sound Studies” habe ich Anne Holzmüller digital über Zoom getroffen.

Lorenz Gilli: Liebe Anne, herzlichen Dank, dass du mit mir und mit uns ins Gespräch kommst!

Anne Holzmüller: Sehr gern!

Lieblingsklänge und die Musikalität von Streichhölzern

Wir haben ja allen unseren Gesprächspartner*innen zum Einstieg die Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas gibt wie einen Lieblingsklang, ein Lieblingsgeräusch oder einen Lieblingssound. Deswegen auch die Frage an dich: gibt es für dich so was wie einen Lieblingsklang? Und wenn ja, was ist der?

Also den Lieblingsklang gibt es ganz sicher nicht, aber es gibt bestimmte Klänge, die besonders positiv besetzt sind oder die ich ganz besonders gerne höre, und die mir natürlich beim Nachdenken über diese Frage – ihr habt sie mir ja vorab geschickt – eingefallen sind, als ich ein bisschen geschweift bin. Und ich glaube, es gibt so zwei Typen von Klängen. Du hast es ja schon erwähnt, ich komme aus der Musikwissenschaft bzw. aus dem Musikmachen, und ich habe selber auch eine praktische musikalische Ausbildung. Das heißt, natürlich denke ich bei Klängen auch immer an musikalische Klänge, also nicht zwingend an Laute und an Geräusche. Es gibt aber, wenn man von Alltagsgeräuschen und Musik ausgeht, zwei Typen: Das eine ist, glaube ich, ein Klang, der einen ganz unmittelbar und auch sehr körperlich anfasst, und der auch stark emotional besetzt ist. Das wäre so etwas wie die Stimme meiner Tochter, wenn sie versucht Englisch zu singen, obwohl sie erst fünf Jahre alt ist. Das ist so ein Klang, der mich total in Verzückung versetzen kann. Oder musikalisch ein ganz bestimmter A-capella-Sound, oder gerade schreibe ich einen Text über den warmen Klang bei Brahms: Was ist das denn eigentlich? Es ist ein ganz bestimmtes klangliches Idiom, das aber nicht nur Klangfarbe und nicht nur Obertonspektrum umfasst, sondern eben auch die Klangstruktur. Das wäre das eine.

Aber noch interessanter sind ja die Klänge, die sich an der Grenze zum Geräusch bewegen und die wir dann vor allem durch ihre ästhetische Rahmung, also durch die Art und Weise wie wir sie framen, plötzlich als etwas Ästhetisches wahrnehmen, obwohl sie sich eigentlich an der Grenze zur Ästhetik bewegen. Das erste was mir aus dem Alltagsbereich in den Sinn gekommen war – und das ist gerahmt worden immer jeweils durch fremde Leute! – also ich hab zwei Sachen, das eine möchte ich nur erwähnen: das ist das Geräusch, das eine Weinflasche macht – wenn sie ganz voll ist – bevor man ein Glas eingießt. Das sind meistens drei, manchmal vier Luftblasen, die in der Flasche aufsteigen. Und das ist ein unglaublich schönes, fast klickendes Geräusch. Und das ist einfach ein Geräusch, an dem kann ich gar nicht mehr vorbei hören. Jedes Mal, wenn irgendwo eine Flasche aufgemacht wird, höre ich und warte ich immer auf diesen Moment, auf dieses Klicken. Und es wäre etwas, was mir gar nicht vorher aufgefallen wäre. Das wäre so ein Beispiel für ein Framing.

Das andere Beispiel, an das ich unmittelbar denken musste, ist tatsächlich aus einem Musikstück, aus einem Album. Als ich 18 war kam das raus und ich habe das damals wahnsinnig viel gehört: Fiona Apple „When the Pawn …“ heißt dieses Album und es ist ein ganz großartiges Album. Ich habe es seit vielen, vielen Jahren zum ersten Mal wieder gehört. Auf dem letzten Track „I Know“ gibt es einen Einsatz von Percussion. Es ist, glaube ich, einfach nur ein Besen, vielleicht auf einer Snare. Aber da hat meine Freundin zu mir gesagt: das klingt, als würde jemand ein Streichholz anzünden. Es ist der letzte Track auf einem ziemlich wütenden Album und es ist ein bisschen befriedet. Und dass dieses Streichholz ganz am Ende des Songs angeht kriege ich nicht mehr raus. Das ist für mich ein wahnsinnig schöner Klang, an den ich so ganz gegenständlich denken muss – fast so in einem Musique concrète-Sinn: dass man die Klangstruktur so richtig wertschätzt, aber eben durch die Rahmung, die man dem Ganzen gibt.

Und das könnte ich auch kurz mal anspielen.

Sehr gerne, ja.

Fiona Apple – “I Know” (Album: When the Pawn …, 1999). Die im Text genannte Stelle ist bei 4:20.

Das war‘s auch schon. Es ist natürlich auch diese Generalpause vorher und es ist natürlich ein total verlängertes Streichholz. Und wenn man sich überlegt, wie es produziert worden ist, dann klingt es überhaupt nicht mehr wie ein Streichholz. Aber die Assoziation poppt trotzdem jedes Mal ein bisschen mit auf. Und natürlich denkt man dann auch anders über Streichhölzer nach, die angezündet werden, [beide lachen] und die klingen dann auf einmal wie das hier.

…und über die Musikalität von Streichhölzern

Genau – „Die Musikalität von Streichhölzern“!

Ein sehr schönes Beispiel. Wie du sagst, durch diese Generalpause wirkt es natürlich noch sehr viel deutlicher und wird in den Vordergrund gestellt. Und auch diesen langgezogenen Schwung, der dann so was Gestalthaftes hat, der so eine Gebärde darstellt, finde ich sehr schön.

Kann ich sehr empfehlen. Nach wie vor.

Klang zwischen Sprache und Musik: Annes Werdegang

Du hast ja schon erwähnt, dass du aus der Musikwissenschaft kommst und dazu arbeitest, daher würde ich dich jetzt gern fragen: wie siehst du das Forschungsfeld der Sound Studies aus deiner Perspektive? Wie kann man Brahms warmen Klang mit Sound Studies in Verbindung bringen?

Ja, du hast ja am Anfang ganz gut so ein bisschen meinen Werdegang skizziert oder umrissen, und ich denke, dass ich disziplinär immer zwischen den Stühlen gesessen habe. Aber dass auf jeden Fall Klang – ohne dass ich mich jemals als weder als hundertprozentig Musikwissenschaftlerin oder als hundertprozentige Germanistin oder als Sound Studies Vertreterin gefühlt hätte – etwas Verbindendes war in dem, wie ich gearbeitet habe. Aber gekommen bin ich aus historischen Bereichen: einerseits aus der Auseinandersetzung mit historischer Musik, mit alter Musik und älterer Musik, und dann aus der Germanistik. Du hast ja auch erwähnt, dass ich meine Dissertation über Sprachklang geschrieben habe. Das ist so die andere Perspektive, die ich auf Klang entwerfe – etwas, was ich unter anderem auch sprachtheoretisch und literaturtheoretisch, aber auch aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik in den Blick genommen habe: Wie wird eigentlich über Sprachklang gesprochen? Wie wird vor allem über Klang in der Sprache im Gegensatz zu Klang in der Musik gesprochen? Diese Meta-Perspektive fand ich immer sehr interessant. Und da gibt es einfach eine ganz alte Tradition, über die ich mich immer noch ein bisschen ärgere, weil sie immer noch sehr lebendig ist: Dass man bei Klang, sobald er ästhetisch wird, also sobald er eine eigene ästhetische Inszenierungsqualität bekommt, eigentlich immer auf die Musik ausweicht und sagt „hier wird Sprache musikalisch“ und dann Punkt. Und dann muss man sich keine Gedanken mehr darüber machen, was das eigentlich bedeutet oder wie mit dem Klang gearbeitet wird. Und man geht natürlich auch darüber hinweg, dass auch Musik nicht immer nur Klanginszenierung in einer ästhetischen Weise ist, sondern dass natürlich auch ständig semantische Prozesse im Spiel sind. Es sind eigentlich verkürzte Klang-Begriffe auf beiden Seiten und die Sprache weicht auf die Musik aus, wenn sie darauf gestoßen wird, dass sie klingendes Material verwendet oder dass das Material von Sprache einfach auch klingt. Und umgekehrt wird in der Musik die Sprachhaftigkeit der Musik hervorgekehrt, wenn es um semantische Prozesse geht. Also das ist immer so ein bisschen mein Einstieg in viele Zusammenhänge gewesen. Und interessanterweise sind aber beide, sowohl dieses Sprachklang-Feld als auch eben diese Auseinandersetzung mit dem musikalischen Klang, nicht unbedingt Kern-Gegenstand der Sound Studies. Das heißt, ich hätte damals in meiner Dissertation Phase immer gesagt: Was ich mache, ist eigentlich schon so eine Art Sound Studies, aber es hatte disziplinär nie so richtig einen Ort. Und deswegen weiß ich auch gar nicht, ob ich jetzt die richtige bin zu sagen, was so los ist in den Sound Studies oder im deutschen Forschungsfeld. Ich hatte immer den Eindruck, dass es disziplinäre Abgrenzungstendenzen gibt von den Sound Studies zur Musikwissenschaft – und umgekehrt natürlich auch sehr stark –, und dass man versucht, so ein bisschen seine Pfründe zu kontrollieren und nicht zu viel vom Kuchen abzugeben an die jeweils andere Seite. Beziehungsweise auch sich zu profilieren – was macht man anders? In der Musikwissenschaft wären das natürlich quellenphilologische Kompetenzen, die verlorengehen, der Kanon und die Auseinandersetzung mit dem Werkbegriff, der ja dann doch irgendwie noch wichtig ist. Und auf der Seite der Sound Studies betont man dann vielleicht eher die neuen Medientechnologien und kulturwissenschaftliche Herangehensweisen. Mich interessieren eigentlich immer die Überschneidungsbereiche von beiden, also: wie kann das eine vom anderen profitieren? Und ich bin mir ganz sicher, dass es da ganz viel zu profitieren und zu verbinden gibt. Deswegen wäre das ein bisschen mein Wunsch – und ich habe ehrlich gesagt auch das Gefühl, dass die Tendenz dahin geht, dass man diese Grabenkämpfe ein kleines bisschen hinter sich lässt. Dass es vielleicht in so einer Phase, in der die Sound Studies institutionell Fuß gefasst haben, noch wichtiger war; und auch die Angst bei der Musikwissenschaft noch größer war.

Meine Professur „Akustische Kultur und Musikvermittlung“ verbindet eigentlich schon zwei Dinge, die überhaupt nicht zusammengehören, wenn man in dieser Logik bleibt: Weil die Musikvermittlung natürlich von einem Kanon ausgeht und vom traditionellen Werkbegriff; und es spricht noch der Wunsch heraus, dass man ein bildungsbürgerliches Ideal weitertransportieren kann. Das alles steckt in diesem Begriff ‚Musikvermittlung‘ drin. ‚Akustische Kulturen‘ hingegen geht weg vom Musikbegriff, vom emphatischen Kunstbegriff, vom Werkbegriff, vom Kanon und so weiter. Da kommen diese vermeintlichen Unvereinbarkeiten ein bisschen ins Spiel, ich finde es aber im Endeffekt sehr reizvoll, genau das zusammen zu denken. Und auch historische Musik, Kunstmusik, ästhetische Kontexte aus einer methodologisch geweiteten Perspektive – auch mit Blick auf Medialität und mit Blick auch auf das Hören und so weiter – zu untersuchen.

Immersive Klangerlebnisse, Medientechnologien und Musikvermittlung

Wo siehst du dann konkret die Möglichkeiten, die beiden zu verbinden? Du hattest ja vorhin angesprochen, dass es auch häufig an den Begriffen – am Musikbegriff oder am Sprachbegriff – liegt, dass man sich vielleicht nicht traut und die disziplinären Grenzen aufrechterhält, vielleicht auch weil das methodische Instrumentarium nicht zur Verfügung steht oder die Begrifflichkeiten, die Theorien. Sind vielleicht aktuelle Medientechnologien auch eine Schnittstelle, um die beiden zu verbinden? Weil wir uns das vorhin über Spotify angehört haben und ich auch gesehen habe, dass da deine Playlist zu Brahms drin ist [AH lacht]. In den Medientechnologien kommt ja viel zusammen – als eine Plattform oder als Aggregator für verschiedene Arten der Musik und Möglichkeiten der Musikvermittlung.

Absolut, ja! Also, dazu zwei Ideen: Klar, mein Forschungsprojekt zur musikalischen Immersion ist im Grunde genau das. Es ist eine Phänomenologie, würde ich sagen, also eine Art des Erlebens, die abgeguckt ist von neuen Medientechnologien.

Screenshot aus der Online-Vorlesung von Anne Holzmüller (Quelle: A. Holzmüller)

Dass das irgendwie musikhistorisch bereits eine Rolle gespielt hat, davon war ich eigentlich von Anfang an überzeugt. Und ich habe mich in meiner Arbeit bis jetzt auch ziemlich viel mit Kirchenmusik-Rezeption im 18. Jh. auseinandergesetzt, wo es ganz viel um Beschreibungen und um Hörberichte geht, die ganz klar markieren, dass es um eine Entrückung geht und um eine gegenweltliche Erfahrung geht – im Zusammenhang mit einer Klangraum-Erfahrung oder mit einem audiovisuell aufgeladenen Erlebnis. Also diese Links interessieren mich einfach.

Und geht es nicht darum zu sagen: „damals war eigentlich schon genau das Gleiche wie jetzt“ – das wäre natürlich komplett naiv, denn es sind ganz andere Voraussetzungen. Aber ich glaube, man kann – wenn man die eigene Musikkultur, die eigene musikalische Lebenswelt und den Umgang mit Medientechnologien anschaut – ganz schön viel gewinnen, auch für musikhistorische Perspektiven. Also das wäre eigentlich das Beispiel par excellence; das habe ich jetzt vier Jahre lang in dem SFB-Projekt gemacht und da gibt’s dann irgendwann auch noch ein Buch dazu – hoffentlich! [lacht] Das ist ein musikhistorisches Unterfangen, und ich verstehe das als ein Buch zum 18. Jahrhundert und als einen Beitrag zur Musikwissenschaft des 18. Jahrhunderts – aber eben geschult an der Auseinandersetzung, an der Theorie und an den Methoden – teilweise zumindest – dessen, was man medienwissenschaftliche oder Sound Studies-Herangehensweisen nennen könnte.

Eine andere Projektidee, die ich gerne verfolgen möchte, und weil du vorher Spotify ins Spiel gebracht hast: Ich beobachte gerade auf Medien wie TikTok oder auch Twitter und YouTube, also vielen sozialen Netzwerken, ein gewisses – vielleicht – ‚Revival‘, und dass musiktheoretische Fragen – also klassische Tonsatzfragen und Fragen zur Zusammensetzung von Harmonien – durch die neuen referentiellen und die neuen vermittelnden Möglichkeiten, die diese Medien haben, so was wie eine neue Konjunktur erfahren; durch Leute wie Jacob Collier zum Beispiel oder Adam Neely, der einen sehr bekannten YouTube-Kanal hat, in dem er musiktheoretische und auch teilweise musikhistorische Zusammenhänge popularisiert. Da steckt ein unglaubliches Potenzial drin, das transformativ und irgendwie verändernd auf die Rolle, die klassische Musik und Alte Musik in unserem Alltag spielt, wirken kann. Ich finde es wahnsinnig interessant, was für Techniken da zum Einsatz kommen: zum Beispiel durch Visualisierungen und durch die neuen Möglichkeiten zu erklären. Gerade bei TikTok gibt es diese ‚Duet‘-Funktion, mit der man verschiedenen Layer von Stimmen übereinandersetzt, mit der dann plötzlich ein ‚Barber Shop‘–Sound oder nach und nach eine fünfstimmige Harmonie aufgebaut werden. Und wie die Leute einfach Lust daran haben – wenn man jetzt an Phänomene wie den ‚Wellerman‘ denkt – zu sehen, wie diese verschiedenen Stimm-Schichten zusammenkommen – was früher, wenn man ehrlich ist, für nicht-musikalisch ausgebildete Leute immer hermetisch geblieben ist. Aber dass da so eine neue Lust dran entsteht und auch eine ganz neue Adressatengruppe ins Blickfeld kommt durch diese neuen Medien, dazu würde ich auch ganz gern was machen – also zu diesen popularisierenden Referenztechniken von neuen Medien in Bezug auf Harmonielehre und Tonsatzfragen. Auch da kommen sehr traditionelle musikwissenschaftliche Perspektiven mit diesem medientechnologischen Blick zusammen. Das ist eine Art und Weise, in der ich ganz gerne arbeite.

Atmosphäre und musikalisches Hören im 18. Jahrhundert

Mich interessiert vor allem dieser Bereich zur Immersion und zur Atmosphäre – den Begriff von Böhme und Schmitz, den du auch nutzt [1]. Ich habe gerade den Text aus dem Sammelband „Music as Atmosphere“ von 2019 gelesen: Da sind ja einige Beschreibungen und Zeitzeugenberichte drin zu diesen Immersions-Erfahrungen – ich glaube, es war in der Sixtinischen Kapelle, wenn ich mich richtig erinnere, auf den Pilgerfahrten. Und das hat mich sehr stark an Beschreibungen erinnert, die ich aus der Electronic Dance Music Culture kenne und aus dem Club-Kontext, und an Entgrenzungserfahrungen oder transzendente Erfahrungen, die mit elektronischer Tanzmusik gemacht werden. Diese Parallele fand ich zum einen besonders interessant. Und zum andern – um auf den Sound Studies–Diskurs zurück zu kommen – hat man sich vor allem mit den musikalischen Klängen oder mit dem Hören von musikalischen Klängen im 20. Jh. und 21. Jh. beschäftigt, aber früher geht man selten zurück. Ich wüsste jetzt keine Arbeit, die sich mit musikalischem Hören früher beschäftigt, die so in dem mit dem Schlagwort Sound Studies verbunden werden. Wenn es ums Hören geht, dann geht es um das Hören nicht-musikalischer Klänge – bei Karin Bijsterveld oder Jonathan Sterne beispielsweise [2]. Siehst du das ähnlich? Ist da eine Lücke in den Sound Studies, also dass man sich mit dem Hören und mit Klängen vor dem 20. Jahrhundert noch zu wenig beschäftigt hat?

Ich würde es anders formulieren: ich würde sagen, es ist eines der vielversprechendsten – vielleicht nicht ‚Desiderate‘, denn es gibt tatsächlich schon ziemlich viel dazu. Aber es ist ein sehr vielversprechendes Feld, das aus dem Bereich der historischen Musikwissenschaft, teilweise im angelsächsischen Bereich, schon seit den 1990er Jahren ziemlich lebhaft beackert wird: historisches Hören. Ich habe gerade in Marburg eine Vorlesung gehalten zur Geschichte des musikalischen Hörens. Ich befasse mich selber eigentlich gar nicht mit dem Mittelalter, aber bei den Sachen, die es dort gibt – von ‚Early Music‘ zum Beispiel gab es mal ein Themenheft – da geht es ganz speziell um verschiedene Methoden, um verschiedene Möglichkeiten, um Quellenmaterialien – wie kann man über das historische Hören dieser Zeit sprechen? – die überhaupt nicht vom Werk ausgehen. Das wird von den Sound Studies, also von den – ich sage jetzt mal – eher auf Klangkunst oder eher medienwissenschaftlich ausgerichteten Sounds Studies vielleicht gar nicht so zur Kenntnis genommen. Aber es gibt da sehr viel. Vor zwei Jahren ist das „Handbook of Musical Listening in the 19th and 20th Century“ von Christian Thorau und Hans Jakob Ziemer herausgekommen, das sich einfach nur zusammenfassend mit diesem relativ lebhaften Forschungsfeld der letzten 25 Jahre auseinandersetzt und die zusammenfasst. Das heißt, da ist schon relativ viel passiert, aber es ist auch noch ganz, ganz viel Spielraum – also gerade: wie geht man methodisch an diese Fragen heran? Was lässt man als Quelle gelten und wie macht man diese Quellen fruchtbar?

Screenshot aus der Online-Vorlesung von Anne Holzmüller (Quelle: A. Holzmüller)

Zu Atmosphären und zu diesen Berichten aus der Sixtinischen Kapelle habe ich ziemlich viel geschrieben. In diesem Text, den du zitiert hast, geht es mehr um den Abgleich mit dem Atmosphären-Konzept von Böhme bzw. Schmitz. Aber Hörberichte sind natürlich immer der naheliegendste Schritt, also wir gucken uns an, wie die über ihr Hören geschrieben haben. Das ist einerseits sehr gewinnbringend und man findet ab einer gewissen Zeit zumindest einiges. Im 17. Jahrhundert wird es eng, im 16. Jahrhundert findet man fast nichts mehr und ab da ist eigentlich Schluss. Die Leute schreiben nicht über ihr Hören oder ihr Hörerleben. Man kann aber auch das Quellenspektrum erweitern. Man kann auch gucken: Was waren denn das für Aufführungsräume? Was haben dort für akustische Bedingungen geherrscht? Welche Praktiken kamen zum Einsatz? Wie waren die Musiker positioniert? Wie haben die Instrumente in dieser Akustik geklungen? Und so weiter. Also das wären auch Fragen, die da sehr stark reinspielen.

Und dann ist natürlich auch ganz wichtig: Was ist das für ein diskursives Feld, in die diese Klänge fallen? Also, was für eine Art von Sprache kann man überhaupt dazu finden? Und da sieht man einfach: Erst ab einer gewissen Zeit waren auch die Diskursfähigkeit und die Sprache so weit, dass man über das Hören im Zusammenhang mit Musik sprechen kann. Das 18. Jahrhundert und diese Berichte aus der Sixtinischen Kapelle sind auch deswegen so wichtig, weil es Fremde sind, die dort hinkommen. Das sind Protestanten, die touristische Reisen unternehmen und den katholischen Ritus in diesen Liturgien erleben, und die das deswegen als genuin ästhetische Erlebnisse beschreiben können. Ein Katholik kann natürlich seine Glaubens- und seine Gotteserfahrung kaum von dem musikalischen Erlebnis unterscheiden, und die Tradition ist ihm so eingeimpft, dass es dieses Framing gar nicht gibt, über das wir vorher gesprochen haben. Diese ästhetische Rahmung, die so wichtig ist, wenn wir über Hören und über Klänge sprechen, kam nicht so richtig zustande. Also braucht es diesen kleinen Bruch. Das passiert nicht alles im 18. Jahrhundert, aber da ist es besonders fruchtbar: Da gibt es die Auseinandersetzung der Nordeuropäer mit dem Süden – das ist die eine Alterität – und die der Protestanten mit dem Katholizismus – das ist die andere Alterität. Und die sind da sehr produktiv.

Also, es gibt da einiges aus der historischen Musikwissenschaft und ich möchte auf jeden Fall in diese Richtung weitergehen. Ich glaube, dass man musikwissenschaftlich unglaublich viel holen kann in diesem Grenzbereich zwischen Musikwissenschaft und Sounds Studies, also mit einer genuinen Sounds Studies-Perspektive auf historischen Medien, auf historische Orte, auf Praktiken und auf Materialitäten – wobei man mit den Materialitäten immer aufpassen muss, dass man die nicht zu absolut setzt. Ich glaube, da gibt es viel zu holen und viel zu machen.

Du hast jetzt eigntlich auch schon fast schon meine vorletzte Frage vorweggenommen, nämlich die nach deinen eigenen zukünftigen Forschungsprojekten und Schwerpunkten und Vorhaben. Aber lass mich doch noch mal kurz nachfragen, ob es da noch was gibt, was bei dir in Planung ist oder auch nur als Idee vorschwebt?

Was ich auf jeden Fall machen möchte, ist ein Forschungsprojekt zur Geschichte des musikalischen Hörens. Das möchte ich auf jeden Fall noch ein bisschen ausweiten – Immersion ist eine Form des Hörerlebens, aber es gibt auch andere Formen des Hörerlebens – und gerade der Frage nachgehen, wie das Hören auch erlebt wurde. Also nicht nur: Welche sozialen Praktiken kamen da zum Einsatz? Wer durfte überhaupt ins Konzert? Wie viel haben die Konzertkarten gekostet? Und so weiter. Diese klassisch kulturhistorischen Fragen sind schon ganz gut beackert, vor allem für das 18. Jahrhundert. Aber die Frage, wie wir uns der Phänomenologie des Hörens historisch nähern können, finde ich sehr interessant. Ganz konkret plane ich gerade zusammen mit Kollegen ein Projekt, wo es im Grunde um akusmatisches Hören avant la lettre gehen soll, also um Hörsituationen, in denen unsichtbarer Klang ganz gezielt eingesetzt und inszeniert wurde, und wie dieser Klang erlebt wurde. man kann da nämlich oft beobachten, dass sich die Visualität auf einer höheren Ebene doch wieder ins Spiel bringt: entweder auf einer imaginären Ebene oder in architektonischen Vorrichtungen, mit denen man erst die Musiker mit sehr viel Aufwand verbirgt und dann stattdessen die Hörer*innen auf ein Bild schauen lässt, das sich mit diesem unsichtbaren Klang ergänzen soll. Da bin ich nicht die Einzige, die dazu forscht, und da bin ich auch in Austausch mit Kollegen. Aber das finde ich zum Beispiel ein sehr, sehr interessantes Feld: Diese Vorgeschichte von akusmatischem Hören, die natürlich auch in liturgischen Kontexten in der katholischen Kirche eine große Rolle spielt, weil es da ständig auch um das Verbergen geht. Nonnen zum Beispiel wurden allein schon kirchenrechtlich verborgen, weil man die nicht sehen durfte. Das heißt, wenn die gesungen haben, dann war das immer eine akusmatische Hörsituation. Zusammen natürlich mit einer bestimmten Kirchenakustik, die auch durch ihre Nachhall-Qualitäten eine Surround-Situation begünstigt. Das sind so Fragen, bei denen ich auf jeden Fall weitergehen möchte.

Finde ich sehr spannend. Sozusagen eine Rekonstruktion der Phänomenologie des Hörens in historischer Perspektive. Also wirklich zu schauen: Wie wurde damals das Hören selbst erlebt? Und das versuchen zu rekonstruieren …

… bzw., wie stark kann man sich dem überhaupt annähern? Das sind natürlich alles nur Annäherungswerte – rekonstruieren kann man da sicherlich gar nichts. Man kann die Diskurse anschauen: wie wurde darüber verhandelt? Aber man kann sich eben auch über die Auseinandersetzung mit Materialien, mit Räumen, mit Akustik, mit Kirchen und so weiter noch ein bisschen näher ran wagen, als nur das Sprechen über das Hören geltend zu machen. Man kann, glaube ich, zum Phänomen noch einen halben Schritt weiter und diesen halben Schritt würde ich gerne gehen.

Über Tafeln und Gitarren als akustische Zumutungen

Weil wir ja mit der Frage nach dem Lieblingsklang gestartet sind, muss natürlich noch die Frage kommen: gibt es auch so was wie einen … ja, was ist eigentlich das Gegenteil davon? Ein „Nicht-Lieblingsklang“, ein „Hassklang“ oder ein „Un-Lieblingsklang“? Ich weiß gar nicht wie man das formulieren soll, aber ich glaube du weißt was ich meine.

[lacht] Ich habe ja vorher schon gesagt: es gibt die Alltagsgeräusche und es gibt die musikalischen Klänge, wobei die Grenzen fließend sind. Das Alltagsgeräusch ist total fantasielos: keine spitzen Gegenstände auf Tafeln. Da muss ich nur daran denken und es ist wirklich albtraumhaft! Manche Leute haben das mit Zellophan-Papier. Dass man die Tafeln nicht alle längst rausgeschmissen hat – so praktisch die sein mögen und nachhaltig usw. – aber ich finde, das ist einfach eine akustische Zumutung. Was ich musikalisch tatsächlich überhaupt nicht ausstehen kann, ist so ein ‚Classic Rock-Gitarren-Idiom‘. Also das finde ich furchtbar. Da muss ich auch nur den Sound hören und der geht bei mir jedes Verständnis dahin. Das mag ich überhaupt nicht. Das ist nicht besonders fantasievoll, aber das sind so spontane Assoziationen, die ich damit habe.

Okay, wir hören uns das jetzt lieber nicht an, bevor uns noch die Gänsehaut aufsteigt. Ja, dann sind wir schon am Ende – vielen, vielen herzlichen Dank!

Ich bedanke mich und es hat viel Spaß gemacht!

Das freut mich. Mir hat es auch viel Spaß gemacht!


Anmerkungen:

[1] Hermann Schmitz hat den Begriff der ‘Atmosphäre’ in die phänomenologische Philosophie eingeführt, siehe dazu bspw. Schmitz, Hermann. 1964. System der Philosophie. Bonn: Bouvier, oder ders. 2016. Atmosphären. 2. Auflage. Freiburg: Verlag Karl Alber. Gernot Böhme baut auf Schmitz auf und macht den Begriff v.a. für die (Neue) Ästhetik fruchtbar, siehe dazu bpsw. Böhme, Gernot. 2001. Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink, oder ders. 2014. Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik. 2. Aufl. der 7., erw. überarb. Aufl. Edition Suhrkamp 2664. Berlin: Suhrkamp.

[2] Hierzu zwei editorische Notizen bzw. Präzisierungen: Zum einen hat auch Jens Gerrit Papenburg in der zweiten Episode des Podcasts auf Arbeiten aus den 1990er Jahren zum Hören des Konzert-Publikums verwiesen, die aber in eine Zeit fallen, in der das Forschungsfeld Sound Studies noch kaum konturiert ist.  Zum anderen beschränkt sich auch Karin Bijsterveld in ihren Arbeiten größtenteils auf das 20. (und 21.) Jh., so auch in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Soundscapes of the Urban Past“ (2013).


Links, Bibliographie und weiterführende Informationen:

Website von Anne Holzmüller an der Philipps-Universität Marburg: https://www.uni-marburg.de/de/fb09/musikwissenschaft/personalseiten/prof-dr-anne-holzmueller

Website des Teilprojekts R1 „Muße und musikalische Immersionserlebnisse” im Sonderforschungsbereich (SFB) 1015 „Muße. Gesellschaftliche Ressource | Kritisches Potenzial“ an der Universität Freiburg https://www.sfb1015.uni-freiburg.de/de/teilprojekte/r-raumzeitlichkeit

Johannes Brahms: https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Brahms

Fiona Apple – “I Know” (Album: When the Pawn …, 1999) https://youtu.be/wB09p4MF7gw

Musique concrète: https://de.wikipedia.org/wiki/Musique_concr%C3%A8te

Ryan, Dr Marie-Laure. 2003. Narrative as Virtual Reality: Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore, Md.: The Johns Hopkins University Press.

Jacob Collier: https://www.youtube.com/user/jacobcolliermusic/

Adam Neely: https://www.youtube.com/c/AdamNeely

Holzmüller, Anne. 2019. „Between Things and Souls: Sacred Atmospheres and Immersive Listening in Late Eighteenth-Century Sentimentalism“. In Music as Atmosphere: Collective Feelings and Affective Sounds, herausgegeben von Friedlind Riedel und Juha Torvinen, 1. Aufl., 218–37. [1.] | New York : Routledge, 2019. | Series: Ambiances, Atmospheres and Sensory Experiences of Spaces: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780815358718.

Sonderheft “Listening Practice” des Journals Early Music (Vol. 25, No. 4, Nov., 1997). https://www.jstor.org/stable/i357066.

Thorau, Christian, und Hansjakob Ziemer, Hrsg. 2019. The Oxford Handbook of Music Listening in the 19th and 20th Centuries. Oxford handbooks. New York, NY: Oxford University Press. https://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780190466961.001.0001/oxfordhb-9780190466961

akusmatisches Hören bzw. Akusmatik: https://de.wikipedia.org/wiki/Akusmatik