Vocal Futures

Zur phonographischen Dekonstruktion der Stimme und ihrer „Menschlichkeit“

Malte Pelleter und Johannes Ismaiel-Wendt boten im Sommersemester 2019 das Seminar Sounds Like The Future. Futurhythmaschinische Gestaltung 1932-2020 an, welches sowohl an der Leuphana Universität Lüneburg als auch an der Universität Hildesheim stattfand. Als Form der Prüfungsleistung war ein Audiopaper vorgesehen, wobei auch das von Lukas Iden und Sophia Tobis mit dem Titel Vocal Futures. Zur phonographischen Dekonstruktion der Stimme und ihrer „Menschlichkeit“ entstand. Dieses kann hier gehört werden:

Audiopaper Vocal Futures

Das Skript

Intro: Auto-Tune Awareness

[Track 0:01: Billie Eilish: xanny (2019). Darkroom, Interscope Records.]

Lukas: Durch die Möglichkeit der phonographischen Reproduzierbarkeit wurde das vermeintlich menschlichste aller Instrumente zum Material. An das Attribut der Menschlichkeit werden in der Regel Natürlichkeit und damit Emotionalität und Authentizität gekoppelt. Insbesondere die Möglichkeit der digitalen Stimmbearbeitung durch Autotune veranlasst unter anderen Ben Gibbard, das Spiel mit diesen Attributen zu kritisieren.

Alex: „I think over the last 10 years, we’ve seen a lot of good musicians being affected by this newfound digital manipulation of the human voice, and we feel enough is enough“. (Gibbard, Ben (2009) in: Montgomery, James (02.10.2009): Death Cab For Cutie Raise Awareness about Auto-Tune Abuse. Url: http://www.mtv.com/news/1604710/death-cab-for-cutie-raise-awareness-about-auto-tune-abuse/. Stand: 07.09.2019.)

[Track 0:40: 100 gecs, Dylan Brady, Laura Les: xXXi_wud_nvrstøp_ÜXXx (2019). Dog Show Records.]

Über-natürliche Stimmen

Alex: Let’s stop this, let’s bring back the blue note

[Track 1:09: Kode9, The Spaceape: Victims (2006). Hyperdub.] 

Sophia: Zischlaute, perkussive Artikulation und das Knacken der Stimmlippen formen den brüchigen, grobkörnigen Sound der Stimme von The Spaceape. Die übermäßige Betonung als natürlich gewerteter Stimmelemente [Track 1:44: Shygirl: Gush (2008). Nuxxe.] durch technische Verfahren der Klangbearbeitung wie Kompression und Equalizing, konstruieren eine Fiktion des Übernatürlichen, Außerirdischen: So alien, so viral. 

Was Gibbard verlangt ist somit nicht erst seit Autotune unmöglich. [Track 2:07: SOPHIE: It’s Okay to Cry (2017). Transgressive Records.] Sobald die Stimme phonographisch von dem menschlichen Körper gelöst ist, verliert sie ihre genuine Menschlichkeit und wird zum technischen Material. Eine aufgenommene Stimme ist nie einfach eine menschliche Stimme, sondern die Emergenz einer Mensch-Technik-Symbiose.

Turn up the McLuhan

Lukas: „When designing any kind of system involving feedback […] one needs to be aware of these emergent artifacts. One can choose to enhance them to ‚turn up the McLuhan‘ you might say, emphasizing the message of the medium“. (Rokeby, David (2016) in: Ekman, Ulrik (2016): Introduction: Complex Ubiquity-Effects. In: Bolter, Jay David/Díaz, Lily/Ekman, Ulrik/Søndergard, Morten/Engberg, Maria (Hrsg.) (2016): Ubiquitous Computing, Complexity and Culture. Routledge, New York. S. 91.)

Die Unterscheidung zwischen einer unnatürlichen, künstlichen Stimmbearbeitung mittels Auto-Tune und einer übermäßigen Betonung vermeintlich natürlicher Attribute der Stimme artikuliert sich über eine unterschiedlich gerichtete Hervorhebung des jeweiligen Mediums in der Mensch-Technik-Symbiose – nicht aber über eine Wertung des einen als mehr oder weniger natürlich, authentisch oder emotional.

Echte Emotionen

Lukas: Emotionalität geht in diesem System nicht verloren, sondern gibt nur das spezifisch Organische auf, was in gängigen Definitionen von Emotion als zentraler Bestandteil dieser verstanden wird.

[Track 3:44: Charli XCX: Lucky (2017). Asylum Records.]

Sophia: „Emotion has been defined as consisting of a synchronisation of changes in all organismic subsystems, thus accounting for the pervasiveness and power of emotional states.“ (Scherer, Klaus R. (1995): Expression of Emotion in Voice and Music. In: Journal of Voice Vol. 9, No. 3, pp. 235-248. 1995 Lippincott-Raven Publishers, Philadelphia. S. 240.)

Jene organischen Subsysteme, welche laut dem Psychologen Klaus Scherer (Scherer, 1995) besonders intensiv auf die menschliche Stimme reagieren und somit Emotionen erzeugen, treten folglich durch die Wahrnehmung technisch reproduzierter und bearbeiteter Stimmen in eine direkte Beziehung mit anorganischen Systemen. Emotionen unterscheiden nicht zwischen unnatürlich und natürlich.

Lucky You’re a Superstar

Lukas: Was in der gängigen Form der Ballade durch eine sukzessive Steigerung des Klangbildes durch zusätzliche Instrumente, die gesangstechnische Veränderung der Stimmfarbe oder die Vergrößerung des Hallraumes erreicht wird, erfolgt bei Lucky durch die kontinuierliche Verstärkung des Auto-Tune Effects und der damit einhergehenden technischen Artefakte. Die Intensivierung von Auto-Tune wird mit der emotionalen Intensivierung gleichgeschaltet, während der Schein der unverfälschten Menschlichkeit durch sprunghafte Tonwechsel, übernatürlich hohe Frequenzen und Verzerrungseffekte fragmentiert wird.  

„Auto-Tune is a contemporary strategy for intimacy with the digital. As such, it becomes quite humanizing. [Track 5:51: A. G. Cook: Superstar (2016). PC Music.] Auto-Tune operates as a duet between the electronics and the personal. A reconciliation with technology.“ (Clayton, Jace (05.05.2009): Pitch Perfect. Url: https://frieze.com/article/pitch-perfect. Stand: 07.11.2019.)

Die dezidierte Auflösung des genuin Menschlichen der Stimme, welche die Phonographie schon immer birgt, zeugt von einem Selbstverständnis der Akteur*innen, welches die Trennschärfe zwischen der eigenen Schaffenskraft und jener der verwendeten Technologie hinterfragt. Damit geht die Bereitschaft einher, sich mit der Maschine gleichzuschalten und das Narrativ des Menschlichen zurückzunehmen, anstatt es – wie Ben Gibbard – als authentisches, im herbei imaginierten ursprünglichen Sinne, natürliches Wesen von der Technik abzugrenzen. [Track 6:39: Aïsha Devi: DNA ∞ (2018). Houndstooth.]

Outro: Vocal Futures Revisited 

Sophia: Durch die phonographische Arbeit an und mit der menschlichen Stimme entfalten sich multiple Futurismen. Die Symbiose von Mensch und Technik verwirklicht sich in diesem Zusammenspiel und technisiert als natürlich vorausgesetzte Eigenschaften, welche das Konstrukt der Menschlichkeit der Stimme bislang aufrecht erhielten.

Die Futurismen liegen in eben diesen Strategien der Auflösung eindeutiger Narrative von „Mensch und Technik“, die stimmzentrierte Musiken als Ausformungen von Alien Music im Sinne von Kodwo Eshun erfahrbar machen können:

„It alienates itself from the human; it arrives from the future. Alien music is a synthetic recombinator, an applied art technology for amplifying the rates of becoming alien. Optimize the ratios of excentricity. Synthesize yourself.“ (Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant Than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. Quartet, London. S. -005.)


Quellenverzeichnis

  • Clayton, Jace (05.05.2009): Pitch Perfect. Url: https://frieze.com/article/pitch-perfect. Stand: 07.11.2019.
  • Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant Than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. Quartet, London.
  • Gibbard, Ben (2009) in: Montgomery, James (02.10.2009): Death Cab For Cutie Raise Awareness about Auto-Tune Abuse. Url: http://www.mtv.com/news/1604710/death-cab-for-cutie-raise-awareness-about-auto-tune-abuse/. Stand: 07.09.2019.
  • Rokeby, David (2016) in: Ekman, Ulrik (2016): Introduction: Complex Ubiqui- ty-Effects. In: Bolter, Jay David/Díaz, Lily/Ekman, Ulrik/Søndergard, Morten/Engberg, Maria (Hrsg.) (2016): Ubiquitous Computing, Complexity and Culture. Routledge, New York.
  • Scherer, Klaus R. (1995): Expression of Emotion in Voice and Music. In: Journal of Voice Vol. 9, No. 3, pp. 235-248. 1995 Lippincott-Raven Publishers, Philadelphia.


Tracklist

  • A. G. Cook: Superstar (2016). PC Music.
  • Aïsha Devi: DNA ☤ ∞ (2018). Houndstooth.
  • Billie Eilish: xanny (2019). Darkroom, Interscope Records.
  • Charli XCX: Lucky (2017). Asylum Records.
  • Kode9, The Spaceape: Victims (2006). Hyperdub.
  • Shygirl: Gush (2008). Nuxxe.
  • SOPHIE: It’s Okay to Cry (2017). Transgressive Records.
  • 100 gecs, Dylan Brady, Laura Les: xXXi_wud_nvrstøp_ÜXXx (2019). Dog Show Records.

Beitragsbild von Universal Audio: https://www.uaudio.de/uad-plugins/special-processing/antares-auto-tune-realtime-advanced.html